Während der Tage der Initiation, der Men´s Rites of Passage, im September 2015 hieß es trotz Temperaturen um die 8o C zu Beginn der Rituale: „Männer, macht den Oberkörper frei und zieht Schuhe und Strümpfe aus!“
Diesmal, beim FIRMing in der Nacht zum 1. Mai 2016, hieß es in der letzten Rundmail: „Männer, zieht euch warm an! Es wird kalt!“ Nächtliche Temperaturen um den Gefrierpunkt waren angekündigt worden. Ich war also vorgewarnt.
28 Männer, Teamer und Teilnehmer, fanden sich an der Forsthütte in der Nähe von Leinefelde ein. Schon auf dem einstündigen Fußmarsch vom Sammelpunkt zur Hütte, den jeder für sich alleine ging, wurden wir auf das Kommende eingestimmt. Ich wurde von einem Hüter empfangen, willkommen geheißen und mit Räucherwerk gereinigt, bevor ich die Schwelle, einen kleinen Bach, von der Alttagsrealität in die besondere Realität überqueren durfte. Schon die nächste Aufgabe verdeutlichte, dass es hier nicht um einen gemütlichen Spaziergang ging: Es ging durch einen Geburtskanal, einen dunklen Tunnel, durch knöchelhohes eisiges Wasser. Der Kälteschmerz durchzog schnell den ganzen Körper. Auf der anderen Seite des Geburtskanals waren Frotteetücher zum Abtrocknen bereitgelegt worden. Und dies war schon ein Zeichen für die besondere Atmosphäre des ganzen FIRMing-Wochenendes: Es wird von dir schon ein gewisser körperlicher Einsatz gefordert, du hast auch die Möglichkeit, deine Grenzen auszutesten, Kälte, Hunger, Schlafmangel gehören dazu. Aber immer kannst du dir sicher sein, dass die Hüter für dich da sind, dir ein Tuch zum Abtrocknen bereitlegen, dir eine wärmende Decke mitgeben, dich mit heißen Kaffee und frischem Rührei bei deiner Rückkehr willkommen heißen. Und so weißt du auch in der Zeit allein im Wald, dass du Teil einer Gemeinschaft bist, dass du begleitet, ja, behütet bist. Männlich behütet, geradeheraus, handfest, aber liebevoll und mitfühlend.
Am Abend gab es erste Rituale, gemeinsames Trommeln, eine kurze Einführung in das Geschehen, das uns erwarten würde und wir erwarten könnten, Gespräche am Lagerfeuer und dann eine erste Nacht im Basiscamp, zum „Eingewöhnen“ noch im eigenen Zelt.
Am nächsten Morgen ging es nach einem letzten Ritual in den Wald. Ein Reh wies mir den Weg und ich folgte ihm in eine Schonung junger Buchen. Ich fand einen schönen Platz am Rande einer Lichtung. Zwischen drei Bäumen schlug ich mein Tarp auf; nicht ohne vorher Bäume, Kräuter, Blumen, Tiere und Mutter Erde zu fragen, ob ich für diesen Tag und eine Nacht in ihrer Gemeinschaft verweilen durfte. Da es keinen Widerspruch gab, richtete ich mich ein. Es war vielleicht kurz nach 9 Uhr, als ich nach einem Gebet auf einen Baum kletterte und mich in eine Astgabel stellte. Ich verschmolz fast mit dem Baum und stand Stunden an den Stamm gelehnt einfach nur da. Ich hörte die Vögel, spürte den leichten Wind und die Sonne auf meiner Haut, sah mal etwas nach links, mal nach rechts, die meiste Zeit aber einfach nur mit einem recht defokussierten Blick gerade aus. Ich beobachtete den Zug der Wolken, zwei Krähen, die in weiten Kreisen über den Wald flogen, die Käfer, Fliegen, Ameisen und Mücken, die an mir herumkrabbelten… und so vergingen Stunden, in denen ich kaum einen bewussten Gedanken hatte. Ich stand einfach nur im Baum und nahm meine Umgebung war, so wie er, der Baum, es vielleicht auch tat. Ich hatte ein Notizbuch dabei. Ich hatte verschiedene Gebete extra aufgeschrieben und mitgenommen, um sie hier in dieser Solo-Zeit in und mit der Mitschöpfung zu beten. Ich hatte mir vor der Abfahrt Fragen notiert, die ich hier für mich bewegen wollte… Doch stattdessen stand ich nur in der Astgabel, zwei Meter über dem Boden und blickte über die Lichtung. Als die Sonne schon langsam unterging, wurde mir bewusst, dass ich den ganzen langen Tag kaum mehr getan hatte, als im Baum zu stehen, zu hören, zu spüren und zu sehen. Nun wollte ich doch noch etwas tun: ich betete für und mit den Bäumen, Pflanzen, Tieren und den Elementen den Sonnengesang des Franziskus und ein Vaterunser, während über mir ein Bussard kreiste und seinen Ruf in meinen Atempausen erklingen ließ. Obwohl es noch hell war, zog ich mich bald in meinen Schlafsack zurück, da es schon recht kühl wurde, und schlief schnell ein. Des Nachts wurde ich immer wieder wach, da ich in meinem zu dünnen Sommerschlafsack trotz Fleecejacke, Handschuhen, Mütze, dicken Socken und der Decke, die wir von unseren Hütern mit auf den Weg bekamen, unglaublich frohr. Mich beschäftigte im Halbschlaf, wie ich mich so tief in den Schlafsack verkriechen konnte, dass ich dennoch von der aufgehenden Sonne am Morgen geweckt würde, um nicht zu spät im Lager an der Forsthütte zurückzusein. Ich träumte nicht von Wäldern und Tieren, sondern von Städten, verpassten Bussen, beruflichen Herausforderungen eines Puppenspielers und Reisebekanntschaften in Hotels… die Träume schienen mir in ihrer alltäglichen Alltäglichkeit so irreal während ich zwischen Buchen, Blättern und Moosen zitterte und versuchte, wieder einzuschlafen. Und doch war mir irgendwie bewusst, dass ich sie mir merken sollte, da sie einen verborgnenen Sinn hatten, den es später noch zu entschlüsseln galt. Die Sonne stand schon über den Bäumen als ich aufwachte. Schnell packte ich meine Sachen, verstreute noch meine Dankesgabe (Reis und Haferflocken) für Mutter Erde, segnete alle Bäume und Kräuter und Tierchen, die mich in den letzten 22 Stunden in ihrer Mitte aufgenommen und begleitet hatten, betete ein Vaterunser und brach auf, um ins Lager zurückzukehren. An der Schwelle zum Lager zwischen der Mehr-als-Menschlichen-Welt und der Menschlichen-Welt warteten drei Hüter und empfingen mich herzlich. Am offenen Feuer wärmten sich die anderen Männer. Das Wasser für die Morgenwäsche war in der Nacht gefroren und wir warteten ein wenig, bis die Sonne das Eis im Tank geschmolzen hatte. Der über offenem Feuer gekochte Kaffee und das frische Rührei schmeckten und wärmten uns. Später kamen wir in kleinen Gruppen zusammen, um uns unsere Geschichten, unsere Erlebnisse zu erzählen. Durch das Teilen mit den anderen und das Spiegeln durch einen der Hüter wurde manches klarer oder sogar erst bewusst, was man in den letzten 24 Stunden „allein“ im Wald erlebt und erfahren hatte. Jede Geschichte war einzigartig und doch schienen alle miteinander verwoben in eine größere Geschichte. Auf der Heimfahrt musste ich immer wieder an den Satz eines Hüters denken: Die Tla-o-qui-laht-Indianer haben kein Wort für Wildnis, sie nennen sie Zuhause.