Vortrag „Die Behandlung der Opfer“

2. Fachtag Trauma & Gewalt – transgenerativ beleuchtet

27.09.2019 in der JFE HolzHaus Berlin-Lichtenberg

von Patric Tavanti

Auf unserem diesjährigen Fachtag „Trauma & Gewalt“ beleuchten wir das Thema „transgenerativ“, also wie Psychotraumata von der Erlebnis­generation auf die nachfolgenden Generationen vererbt oder an sie wei­tergegeben werden. Und welche Auswirkungen diese transgenerativen oder transgenerationalen Traumata für die Familie, aber auch für ihre Umwelt haben und welche Dynamiken sie in Gang bringen können.

Xx Mir wird immer wieder gesagt, dass das Thema ja hochaktuell sei, „ge­rade jetzt, mit den ganzen Flüchtlingen…“

Aber ich will diese einführenden Worte dafür nutzen, unseren Blick zu weiten. Das Thema „transgenerationale Traumata“ ist uns vielleicht durch die schwierige Situation der geflüchteten Menschen besonders bewusst ge­worden. Aktuell, wenn auch kaum beachtet, ist es aber schon seit vielen Ge­nerationen – nicht nur in Deutschland und nicht nur durch Menschen, die hier Schutz und Sicherheit suchen.

Die Behandlung der Opfer ist ein Buchtitel von Klaus Ottomeyer[1]. Er ver­weist darauf, dass er diesen Titel gewählt hat, da ihm die Doppeldeutig­keit wichtig sei, nämlich, wie wir die Opfer therapeutisch behandeln, aber auch, wie wir die Opfer im Alltag behandeln, wie wir mit ihnen umgehen – oder eben auch nicht.

Wie behandelt unsere Gesellschaft, also wir, die Verfolgten, Gefolterten, Versklavten der NS-Zeit, die Opfer des II. Weltkriegs mit Bombenterror, Belagerungen und Straßenkämpfen, die Geflüchteten, Vertriebenen und die über 2 Millionen durch alliierte Soldaten vergewaltigten Frauen? Wie behandeln wir die Opfer der Stasi und der DDR? Auch aus der DDR flüchteten Menschen in den sogenannten Westen. Sie hatten alles auf­gegeben und zurückgelassen, und kamen in eine ihnen „fremde“ Heimat, wo sie erst einmal in Sammelunterkünften untergebracht wurden. In ei­ner SFB-Reportage aus dem Jahr 1989 beklagte eine Rudowerin, dass die DDR-Flüchtlinge vor der Unterkunft rumlungerten, nichts zu tun hätten und natürlich auf dumme Gedanken kämen, vorbeigehende Frau ansprä­chen, stehlen und trinken würden – und dass die Immobilienpreise nur durch ihre Anwesenheit sicher bald in den Keller gingen.

„Wir waren nicht gewollt“, sagte auch meine Großmutter immer wieder, die als Vertriebene 1945 aus Soldin in Westpommern nach Westberlin kam.

Sie waren nicht gewollt, sie wurden nicht gefragt, nicht gehört, nicht ge­sehen. Und sie verstummten, schwiegen aus Scham, aus Furcht und aus dem Wunsch heraus, dass das Schweigen das Erlebte zwar nicht ungeschehen macht, aber zumindest vergessen lässt. Und wie in der Nachkriegszeit, so sagen die Opfer auch heute, Hauptsache ich habe Ar­beit. Nicht nur als Möglichkeit der Ablenkung, des Verdrängens, sondern auch, um der Gesellschaft und sich selbst zu beweisen, dass man dazu­gehört, nicht wehleidig ist, etwas einen Wert hat und einen wichtigen Beitrag leistet.

Nicht nur um zu vergessen, sondern auch als unbewusste Reaktion auf die innere Leere, die Schuld- und Ohnmachtsgefühle und das beschä­digte Selbstwertgefühl. Dennoch blieben und bleiben diese Menschen mit ihren Alpträumen, Ängsten, Wutausbrüchen, psychischen und kör­perlichen Belastungen unverstanden, allein und oft auch abgelehnt.

„Nun reiß Dich mal zusammen.“ – „Das Leben geht weiter.“ – oder – „Du bist nicht mehr der Mensch, den ich mal geheiratet habe.“ waren Sätze, die sie verstummen ließen.

Heute sind sich viele Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen und Sozi­olog*innen einig: Die nachfolgenden Generationen müssen oft unter den Erlebnissen und Erfahrungen ihrer Vorfahren mitleiden. Oder wie Silke Hassel­mann es formuliert: sie werden heimgesucht, und zwar frei nach dem Al­ten Testament, 2. Buch Mose, „bis ins vierte Glied“.[2] Wohl einer der wichtigsten Gründe für diese Heimsuchung ist das Schweigen der Großeltern und Eltern.

Frau Marianne Leuzinger-Bohleber verdeutlicht in ihrem Buch „Chroni­sche Depression, Trauma und Embodiment – eine transgenerative Per­spektive in psychoanalytischen Behandlungen“[3], dass in Deutschland 2,8 Millionen Männer und 3,0 Millionen Frauen von Depression betroffen sind, gut 10% der Bevölkerung. 40% der deutschen Bevölkerung stirbt an Herz-Kreislauf-Erkrankungen[4], rund 18 Millionen Menschen in Deutschland sind an einer Sucht erkrankt[5]. Und laut der  „Deutschen Ge­sellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Ner­venheilkunde“ erfüllt bundesweit mehr als jeder vierte Erwachsene im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung.[6] All das sind Krankheiten, die mit Psychotraumata und Posttraumatischen Belastungsstörungen in Verbindung gebracht werden. Viele weitere, teils unerklär- oder unbehandelbare körperliche Erkrankungen oder Symp­tome können bei genauerer Diagnose auf eigene oder transgeneratio­nale Traumata zurückgeführt werden. Und auch Demenz wird von Teilen der Wissenschaft mit Traumafolgereaktionen in Verbindung gebracht. Dabei sind die meisten der heute an Demenz Erkrankten sogenannte Kriegskinder, die transgenerativ ihre Symptome von ihren Eltern empfan­gen und an ihre Kinder, die Kriegsenkel, weitergegeben haben. Transge­nerative Traumata verwachsen sich nicht mit den Generationen, sie brei­ten sich aus.

(Nicht zu vergessen die Opfer sexualisierter, emotionaler und körperlicher Gewalt in Kinderheimen, im Sport, der katholischen Kirche…)

Wenn man nun auch noch bedenkt, dass ca. 30 % aller Kinder bis zu ihrem 18 Lebensjahr psychische und/oder physische Gewalt erfahren müssen[7] und jedes fünfte bis vierte Mädchen bis zur Volljährigkeit sexualisierte Gewalt erlebt[8] und die Täter*innen meist aus dem engsten Kreis der Familie stammt, dann bekommen wir eine Ahnung von der Dimension transgenerationaler Traumaweitergabe in unserer Gesellschaft.

Und darum bin ich der Meinung, dass Franz Ruppert recht hat, wenn er von einer „traumatisierten Gesellschaft“ spricht[9]. In seinem Buch „Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft?“ beschreibt er, wie sich individuelle Traumata auf die Angehörigen auswirken und diese in die Gesellschaft ausstrahlen und die traumatisierte Gesellschaft wie­derum auf die Familien und diese auf das Individuum zurückwirken. Eini­ges von diesen Dynamiken und Folgewirkungen werden hier heute Thema sein.

Natürlich ist nicht alles Trauma. Aber ohne zumindest ein Psychotrauma als mögliche Ursache mitzudenken, bleibt vieles unverständlich, uner­klärlich, und letztlich unbehandelbar.

„Bis ins vierte Glied“[10] ist auch ein Buchtitel. Herausgegeben vom Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und dem Landesbeauf­tragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssi­cherheitsdienstes der ehemaligen DDR.

Mindestens 300.000 betroffene Personen litten oder leiden noch immer unter latenten oder manifesten psychischen Beeinträchtigungen als Folge von politisch motivierter Inhaftierung und anderer Repressalien in der DDR, so das Ergebnis einer Studie von 2003 des Greifswalder Uni­versitätsprofessors Harald Freyberger.[11]

Nicht jeder traumatisierte Mensch wird, wie gesagt, auch psychisch krank. Auch indirekt werden Traumata nicht automatisch und 1:1 auf Kin­der und Kindeskinder übertragen, auch wenn es Hinweise auf eine gene­tisch bedingte Anfälligkeit gibt. Aber, so Prof. Harald Freyberger, in ei­nem Bericht des Deutschlandfunks:

„Das Schlimmste, was einem Menschen in der zweiten Generation pas­sieren kann, ist eben dieses Schweigen. Er erlebt dann bei seinen El­tern, die ja möglicherweise betroffen sind, oder bei seinen Großeltern Verhaltensmerkmale, die er sich nicht erklären kann, die unheimlich sind. Und das verändert natürlich die Beziehung zur Welt und zu den Men­schen ganz grundsätzlich.“[12]

Viele traumatisierte Menschen sagen, dass das Trauma zwar schon schlimm, noch viel schlimmer aber danach die Erfahrung des Unver­ständnisses, des Weg-redens, des Verharmlosens der Menschen war, an die sie sich vertrauensvoll gewandt, oder es zumindest versucht hat­ten.

Die Behandlung der Opfer im Alltag… und in der Medizin?

Viele Menschen mit Zuwanderungsgeschichte haben auch in ihrer medi­zinischen Behandlung genau dieses Unverständnis, Weg-reden und Ver­harmlosen erfahren müssen.

Viele Migrant*innen kennen die Konzepte „Psychotrauma“, „PTBS“ oder „Dissoziative Identitätsstörung“ nicht, sie kennen die psychischen Symp­tome und medizinischen Kriterien nicht. Sie können sie also auch nicht beschreiben. Aber sie erleben körperliche Symptome und wenden sich damit hilfesuchend an deutsche Ärzte.

Auf „Bento online“, das Jugendangebot des Magazins Der Spiegel, be­schreibt Yannick von Eisenhart Rothe, wie eine Frau beim Arzt über Schmerzen im Bauchraum klagt. „Weil Deutsch nicht ihre Muttersprache ist, kann sie kaum beschreiben, wo der Schmerz sitzt und wie stark er ist. Fest steht nur: Es tut weh. Der Arzt verschreibt ein Schmerzmittel und sagt hinterher: „Das war dann wohl ein Fall von Morbus Mediter­raneus“.“[13]

Was der Arzt wohl damit meinte: „Die stellen sich immer so an, die Frauen mit Migrationshintergrund.“ Diese (rassistische) Zuschreibung va­riiert je nach Herkunft oder auch aktuellen Flüchtlingsgruppen: „Morbus Bosporus“, „Morbus Balkan“ oder „Mamma-mia-Syndrom“. Oft seien Ärz­tinnen und Ärzte dann wegen der ungenauen Beschreibung und des ver­meintlichen „Jammerns“ genervt, so Yannick von Eisenhart Rothe. Es schiene, als würden als „deutsch“ angesehene Personen genauer unter­sucht, so ein Medizinstudent in dem Artikel.

Der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus der Bundesregierung[14] von 2017 beschreibt erhöhte Häufigkeiten von schweren psychischen Krank­heiten, weniger therapeutischen Behandlungen und eine erhöhte Suizid­rate bei Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, besonders bei Frauen.

Amma Yeboah, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Köln unterstreicht, dass es Studien gebe, die belegen, dass Menschen mit Migrationshintergrund häufiger und schwerer an psychi­schen Störungen erkranken und gleichzeitig viel später behandelt wer­den. Und sie fügt hinzu, dass das auch ein Ausdruck von Hilflosigkeit des medizinischen Personals sei. Noch gravierender wäre die Situation für Frauen mit Migrationshintergrund. Bei Ihnen vermischen sich oft un­terbewusster Sexismus und Rassismus beim medizinischen Personal zu einer Abwehrhaltung, die sich in der Zuschreibung „Morbus Mediter­raneus“ ausdrückt und Patientinnen das Leben kosten kann.

Und damit möchte ich abschließend zu einem letzten Punkt kommen:

Die Behandlung der Opfer, das Handeln der Betroffenen.

Viele Menschen, die sich für andere, für Gerechtigkeit und Solidarität en­gagieren, die aus Mitgefühl und innerer Betroffenheit Menschen in schwierigen Situationen helfen, sind oft auch – bewusst oder unbewusst -tatsächlich selbst Betroffene, auch wenn sie sich nicht an die eigenen oder transgenerationalen Traumata erinnern oder überhaupt von ihnen wissen. Darum möchte ich Sie bitten, wenn Ihnen heute im folgenden Vortrag oder in den Workshops im wahrsten Sinne etwas unter die Haut geht, sie mer­ken, dass sie nervös und unruhig werden, schneller atmen, Ihnen heiß o­der schwindelig wird, dann gehen sie raus, machen sie einen kurzen Spaziergang auf unserem Außengelände, trinken Sie einen Schluck und wenden Sie sich vertrauensvoll an die anwesenden Fachleute nachher beim Worldcafé oder in einer der Pausen. Vielleicht wurden in Ihnen traumatische Erinnerungen getriggert. Und auch wenn nicht, sprechen sie mit anderen darüber.

Und behandeln Sie sich gut.

Vielen Dank!


[1] Ottomeyer, Klaus, Die Behandlung der Opfer, Stuttgart, 2011

[2] https://www.deutschlandfunk.de/traumavererbung-bis-ins-vierte-glied-traumata-praegen-auch.724.de.html?dram:article_id=343713 (Stand: 24.09.2019)

[3] Leuzinger-Bohleber, Marianne, Chronische Depression, Trauma und Embodiment – eine transgenerative Perspektive in psychoanalytischen Behandlungen, Göttingen, 2018

[4] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/gesundheitsgefahren/sucht-und-drogen.html (Stand: 22.09.2019)

[5] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/gesundheitsgefahren/sucht-und-drogen.html (Stand: 24.09.2019)

[6] https://www.dgppn.de/schwerpunkte/zahlenundfakten.html (Stand: 24.09.2019)

[7] Vgl. https://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/Gewalt-gegen-Kinder-ist-noch-immer-Alltag, 14.07.2017 (Stand: 22.09.2019)

[8] „Etwa jedes 4. bis 5. Mädchen und jeder 9. bis 12. Junge macht mindestens einmal vor seinem 18. Lebensjahr eine sexuelle Gewalterfahrung.“ zitiert: https://www.zartbitter.de/gegen_sexuellen_missbrauch/Muetter_Vaeter/2010_wie_haeufig_werden_kinder_missbraucht.php (Stand: 23.09.2019)

[9] Ruppert, Franz, Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft?, Stuttgart, 2018

[10] „Bis ins vierte Glied – Transgenerationale Traumaweitergabe“, Drescher A., Rüchel, U., Schöne, J. (Hg), 2015

[11] https://www.deutschlandfunk.de/traumavererbung-bis-ins-vierte-glied-traumata-praegen-auch.724.de.html?dram:article_id=343713 (Stand: 24.09.2019)

[12] https://www.deutschlandfunk.de/traumavererbung-bis-ins-vierte-glied-traumata-praegen-auch.724.de.html?dram:article_id=343713 (Stand: 24.09.2019)

[13] https://www.bento.de/politik/morbus-mediterraneus-das-rassistische-klischee-von-wehleidigen-migranten-a-7eced19d-851a-406e-aeb8-bea60ae28873 (Stand: 24.09.2019)

[14] Nationale Aktionsplan gegen Rassismus der Bundesregierung, S. 114, Kabinettbefassung am 14. Juni 2017