„Franziskus und die Begegnung mit dem Aussätzigen in mir“

(Vortrag auf der Tagung „Armut als Problem und Armut als Weg“ der Fachstelle Franziskanische Forschung u.a. in Münster 2015)

Ich bin als „un-ordentlicher Franziskaner“ gefragt worden, ob ich aus meiner persönlichen Sicht beschreiben könnte, wie die franziskanische Armutsspiri­tualität mein Leben bereichert. Ich möchte als Theatertherapeut versuchen, aus einer biografischen, aber auch psychologischen Perspektive zu antworten.

2005 luden Franziskanerinnen und Franziskaner mich ein, als Schau­spieler bei dem MusikTanzTheaterProjekt „clara.francesco“ mitzuwirken.[1] Dieses Projekt war für mich Ausgangspunkt für eine Neubesinnung. Einige Sätze, die ich dort aus dem „Testament des Heiligen Franziskus“[2] vortrug, brachten mich völlig durcheinander.

Es war die Umarmung des Aussätzigen.[3] Sie alle kennen die Szene. Mich hat sie schockiert. Sie hat mir einen sehr klaren Spiegel vor Augen gehalten. Ich engagierte mich sozial und politisch – aber ich hätte keinen Aussätzigen küssen können, dafür hing und hänge ich zu sehr an meinem Leben.

Franziskus aber ist vom Pferd herabgestiegen, um diesem Aussätzigen auf Augenhöhe zu begegnen. Er hat danach allen Besitz aufgegeben, um auch weiterhin den Aussätzigen auf Augenhöhe begegnen zu kön­nen. Er machte sich selbst zum Aussätzigen und hauste im Freien vor der Stadt. Die Radikalität des Franziskus liegt weit außerhalb meiner alltäglichen Komfortzone. Leicht könnte ich fragen, was hat das mit mir zu tun?

Armut gibt es überall. Aber ich habe durch Franziskus etwas kapiert: Die Armen in der Stadt sind Teil der Gesell­schaft und haben ihren Anteil an ihr (an den Produkten, Festen, der Sicherheit durch die Stadtmauern). Die Aussätzigen jedoch werden ausge­stoßen, aus der Stadt gejagt und als schon gestorben und tot angesehen.

Franziskus stieg vom Pferd, umarmte den Aussätzigen und küsste ihn. Unglaublich. Aber noch unglaublicher finde ich, dass Franzis­kus damit nicht beschreibt, wie er Gutes tut, sondern selbst Gutes, näm­lich Heilung erfährt. Denn er sagt, dass ihm das, was ihm vorher so bitter war, „in Süßigkeit der Seele und des Leibes verwandelt“[4] wurde. Er schreibt nicht, dass der Aussätzige irgendetwas davon gehabt hätte (spontane Heilung, einen schmerzfreien Tag, einen leichteren Tod). Nein, er schreibt nur, wie es ihm selbst durch diese Begegnung besser ging. Und das schockierte mich noch mehr. Was suche ich, wenn ich anderen helfe? Und kann ich anderen überhaupt helfen? Brauche ich den Ande­ren, den Aussätzigen, um mich selbst besser zu fühlen? Welchen Mehr­wert hat dieses Engagement für mich? Fühle ich mich selbst dadurch mehr wert?

Es dauerte lange, bis ich eine Antwort fand, die für mich tatsächlich stimmig war. In meiner Ausbildung zum Drama- und Theatertherapeuten wurde ich mit meinem Gutmenschentum immer wieder konfrontiert. Und das war keine Süßigkeit, sondern ganz schön bitter. Ich war nicht der Franziskus, der vom Pferd stieg, ich war der frühere Franziskus, der als Ritter stolz vor­beiritt und dabei ausrief, ich tu das für euch, bewundert mich doch bitte!

Und so lernte ich in meiner Ausbildung zu erkennen, dass Franziskus weder heroisch in den Krieg ziehen musste, um dem Aussätzigen zu helfen, noch ihn küssen, um ihn zu heilen. Im Gegenteil: Indem Franziskus den Aussätzigen umarmte und küsste, gestand er sich selbst ein, dass er krank und verloren war, dass er nichts zu verlieren hatte, dass er dem Aussätzigen nicht helfen konnte, dass er ihm gleich war, dass ihn nichts von ihm trennte. Und so war es der Aussätzige, der Franziskus half, sich selbst zu erkennen. In der Begegnung erfahren beide ihre Würde, weil sie gesehen werden vom Gegenüber. Als Franziskus begriff, dass er nichts Besseres, Größe­res, Heroischeres sein musste, dass er nicht nach Anerkennung und An­sehen suchen, sondern stattdessen sich in seiner Menschlichkeit, seiner Hilflosigkeit, Unfertigkeit und Unzulänglichkeit akzeptieren konnte, ver­flog seine Depression. Die Begegnung, das „Zwischen-Menschliche“ heilte ihn.

Franziskus verließ kurze Zeit später diese Welt, wie es in seinem Testa­ment heißt. Er wurde ein Heiliger.

Ich lebe in dieser Welt sehr weltlich weiter. In meiner Ausbildung hieß es, der Therapeut bekommt immer die Klienten, die er gerade braucht, um in seiner Entwicklung als Mensch selbst weiterzukommen. In der Therapie­sitzung treffen sich nicht Helfer/Heiler und Bedürftiger, sondern zwei Kranke.

Aussätzige, Ausgestoßene, Abgeschriebene, Aufgegebene, Abgehängte und Abge­stempelte haben wir heute auch hier in Deutschland viel zu viele. Ich ar­beite unter anderem in der Jugendanstalt Neustrelitz. Diese Jugendli­chen will unsere Gesellschaft nicht sehen. Hinter hohen Mauern wegge­sperrt, sollen sie gebessert, geheilt, entschärft werden. Und auch wenn sie wieder rauskommen, bleiben sie stigmatisiert und ausgegrenzt.

Ich empfinde es als eine der schlimmsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann: Als Mensch von anderen Menschen aufgegeben und totgesagt weiterleben zu müssen. Das beraubt ihn seiner Würde. Ich will diesem Menschen helfen. Und das ist gut und wichtig. Aber wie schnell verliere ich die Augenhöhe, wenn ich helfen will?

Ich will mit Ihnen noch ein letztes Mal zu der Begegnung vor über 800 Jahren zurückkehren.

Franziskus stieg vom Pferd und küsste den Aussätzigen. Als er aber wieder auf sein Pferd gestiegen war, konnte er den Aussätzigen nir­gendwo mehr entdecken.

Ich will diese Geschichte als eine „Begegnung mit sich selbst“ verstehen.

Wenn ich von meinem hohen Ross heruntersteige, meine Rüstung oder meine feinen Kleider ablege und mich ansehe, wie ich bin, mag es einen Moment der völligen Annahme geben. Wenn ich aber wieder auf mein Pferd steige, verliere ich mich aus dem Blick, ja ich fürchte mich sogar, mich selbst so zu sehen, wie ich tatsächlich bin. Ich mache mich selbst zum Aussätzigen, der sich verstecken muss und mir nicht zu nahe kommen darf. Wann bin ich diesem Aussätzigen in mir begegnet?

Immer wieder mal, wie jeder von uns. Mal ließ ich ihn näher kommen, meist reichte mir ein schneller Blick aus der Ferne, um voller Angst die Flucht zu ergreifen. Aber dass ich ihn küsste?

Ich lag vor einiger Zeit mit Schüttelfrost und Fieber im Bett und hustete mir die Seele aus dem Leib. Da erinnerte ich mich, wie ich als Einjähriger mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus kam. Der Arzt gab mir lediglich eine geringe Überlebenschance. Meine Eltern durften mich nur durch eine Scheibe hindurch sehen. Da ich immer weinte, wenn ich sie sah, sie mich aber nicht trösten konnten, kamen sie bald gar nicht mehr.

Ich konnte das alles noch nicht verstehen. Und ich kann mich nur durch Erzählungen an diese Episode erinnern. Aber die Erfahrung hinterließ ihre Schatten: Die Angst verlassen zu werden, die Angst nicht liebens­würdig zu sein, verbunden mit der Angst zu sterben. Und die Angst, für etwas bestraft zu werden, ohne zu wissen, wofür. Diese Ängste blieben im Unbewussten. Dafür blieben sie umso wirksamer. Um zu verhindern, dass ich jemals wieder in so eine Notlage geriet, musste ich mich unersetzlich machen. So lange ich gebraucht werde, kann ich nicht verstoßen werden. Solange ich meine Bedürfnisse hinter den Wünschen anderer zurückstelle, so lange ich mich bescheiden und hilfsbereit um andere kümmere, kann ich nichts falsch machen oder bestraft werden.

Als ich nun mit Grippe im Bett lag, erkannte ich, dass diese kindlichen Ängste mich heute noch in meinem Sehen, Fühlen, Denken und Handeln bestimmen. Und das war, gelinde gesagt, ernüchternd. Da blieb nicht viel Ritterliches oder gar Heiliges.

Es ist nicht schön, mir einzugestehen, dass ich die fehlende Eigenliebe durch die Anerkennung und Dankbarkeit anderer auszugleichen versu­che. Es ist nicht leicht, mir einzugestehen, dass ich mit meinem Verhal­ten Kontrolle und Sicherheit erlangen will.

Es ist nicht leicht, mir einzugestehen, dass es gar nicht darum geht, ein Aussätziger zu werden (welch heroische Selbstaufgabe), sondern endlich zu kapieren, dass ich schon immer der Aussätzige war. Der Aussätzigen, vor dem ich mich noch heute fürchte, den ich nicht sehen will, den keiner sehen soll. Meiner eigenen Bedürftigkeit, meiner Verletzlichkeit und meinen Verlustängsten muss ich ins Auge sehen. Ich muss sie an­nehmen, umarmen, und die Verantwortung für sie übernehmen, statt sie beim Anderen zu suchen und heilen zu wollen.

Franziskus erkannte in der Umarmung des Aussätzigen sich selbst. Er gab das Getue auf, gab auf, etwas sein zu wollen, was er nicht war. Es geht nicht darum, etwas zu tun, sondern zu sein!

Die Einfachheit, die ich bei Franziskus entdeckt habe, kann genauso missbraucht werden, um Anerkennung und Ansehen zu erlangen, wie Reichtum und Macht. Ich kenne diese Versuchung nur zu gut.

Und wie die Gefangenen, mit denen ich ar­beite, bleibe auch ich Gefangener meiner frühkindlichen Prägungen, so lange ich sie nicht erkenne, annehme und sie mir immer wieder bewusst mache. Ich muss dem Aussätzigen in mir wieder und wieder begegnen und ihn wieder und wieder küssen. Bis ich bereit bin, ihn nicht mehr vor mir und anderen zu verstecken.

Und was ist nun mit den jugendlichen Straftätern in Neustrelitz? Ich kann sie nicht heilen, Ihnen helfen oder sie befreien. Aber ich kann ihnen einen sicheren Raum bieten in unserer Begegnung. Meine Aufgabe ist dabei nicht, zu heilen, was da hervorbricht, sondern es (auszu-)halten und anzusehen, ohne es zu verurteilen oder abzulehnen. Eben ihnen auf Augenhöhe zu begeg­nen. Nicht ich, sondern diese Begegnung kann uns beide heilen.

(Erschienen in: Speelman, Willem Marie/Hilsebein, Angelica/Schmies Bernd (Hrsg.)Armut als Problem und Armut als Weg – Poverty as Problem and as Path, 2018)


[1] Das MusikTanzTheaterProjekt „clara.francesco“ wurde auf Initiative der Missionszentrale der Franziskaner mit Blick auf den XX. Weltjugendtag (WJT) 2005 in Köln in Zusammenarbeit mit zahlreichen Künstlerinnen und Künstlern und verschiedenen franziskanischen Konventen und Gemeinschaften entwickelt (Texte: P. Helmut Schlegel OFM, Musik: Mea Kauß und Werner Dannemann, Choreografie: Barbara J. Lins, Regie: Daniel Wrana). Nach dem WJT fanden bis 2009 weitere Aufführungen statt, u.a. in Berlin, Bonlanden, Nürnberg, Oberhausen, Osnabrück, Sibiu, Speyer und Werne.

[2] Vgl.: Franziskus: Das Testament. In: Berg, Dieter / Lehmann, Leonhard (Hg.): Franziskus-Quellen. Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden. Kevelaer 2009 (Zeugnisse des 13. und 14. Jahrhunderts zur Franziskanischen Bewegung, Band 1) 59.

[3] Vgl.:  von Celano, Thomas: Zweite Lebensbeschreibung. In: Berg, Dieter / Lehmann, Leonhard (Hg.): Franziskus-Quellen, 305

[4] Berg, Dieter / Lehmann, Leonhard (Hg.): Franziskus-Quellen, 59.