„Mein sicher Ort – in unsicherer Umgebung – theatertherapeutisch basierte Arbeit mit durch Krieg und Flucht traumatisierten Kindern“ von Patric Tavanti
Für einen großen Teil der Migrant*innen verlief die Flucht
dramatisch: Ein Viertel gab an, Schiffbruch erlitten zu haben, 40 % wurden
Opfer von Gewalt. Ein Fünftel hatte Raubüberfälle erlebt. Und 15 % der
geflüchteten Frauen waren Opfer sexueller Übergriffe.[1] Kritisch wird dieser
Befund, wenn man bedenkt, dass es für die über 6.600 Menschen in Berliner
Notunterkünften[2]
keine psychologische Versorgung gibt. Die Unterbringung soll eigentlich nur
wenige Tage dauern, für viele dauert sie jetzt aber schon über ein
Jahr. Und auch für traumatisierte Kinder, gibt es so gut wie keine Hilfe.
Da das pädagogische Personal in den Unterkünften durch teils schwer traumatisierte
Kinder schnell an seine menschlichen wie fachlichen Grenzen stößt, wurden wir,
ein Team von Theatertherapeut*innen gebeten, uns um besonders schwere Fälle zu
kümmern. Auftrag war in erster Linie, Stabilisierung und Schaffung von Voraussetzungen, die Kinder in
die betreuten Gruppen und Schulklassen zu integrieren. Da kein Geld für unsere
Arbeit vom Senat zur Verfügung gestellt wird, können wir nur ehrenamtlich gegen
eine Aufwandsentschädigung tätig werden. Wir wurden gebeten, in diesem Bericht
die Unterkunft nicht zu nennen.
Theatertherapie ist eine körperorientierte Therapieform, die sich
künstlerischer Ausdrucksformen bedient, um Menschen das Erleben und Entwickeln
neuer Handlungsoptionen und Bewältigungsstrategien zu ermöglichen. Durch die
szenische Darstellung wird eine besondere Realität geschaffen (der Dramatische
Raum), in der durch die gestalterische Form (die ästhetische Distanz) ein hoher
Grad an Schutz erfahren wird. Es liegt auf der Hand, dass körperorientierte,
kreative Methoden besonders für traumatisierte Kinder geeignet sind, die in
einem fremden Land auch sprachliche Benachteiligung erfahren und /oder
Erlebnisse nicht sprachlich-kognitiv bearbeiten können.
Wir arbeiten in unserem Team auf der Grundlage des BASIC-PH-Modells des israelischen Traumatherapeuten Mooli Lahad und verbinden dabei Ansätze des „Save Place“ nach Ronen Berger und Methoden der Theatertherapie. Dabei beziehen wir Erkenntnisse und Übungen der systemischen Traumatherapie für Kinder mit ein und entwickeln in der Arbeit kontinuierlich neue, eigene Übungen.
Wir sehen unsere Aufgabe darin, den Kindern einen sicheren Ort in der mehr als unsicheren und unberechnenbaren Umwelt der Notunterkunft zu bieten. Und einen Rahmen zu geben, in dem sie ihre innere Anspannung und Übererregung abbauen, den Umgang mit Wut und anderen starken Gefühlen üben können. Dabei ist uns auch wichtig, durch klare Strukturen, wiederkehrende Rituale und einfache Regeln den Kindern ein Gefühl von Sicherheit, Kontrolle und Vorhersehbarkeit zu vermitteln.
Gerade zu Beginn erschwerte uns die gegebene Struktur der Unterkunft die Etablierung des sicheren Rahmens, da wir keine festen Räume hatten, mal auf dem Parkplatz, mal in einem Spielzimmer der Pädagogischen Abteilung arbeiten mussten. Auch die Kinder in den zwei wöchentlichen Gruppen wechselten ständig.
Wichtige Grundsätze unserer Arbeit sind „Gelassen-werden“ und „Gesehen-werden“ (durch das Zulassen von Aggression, z.B. durch den Einsatz von Batakas, wobei die anderen Kindern als Zuschauer*innen den Kampf beobachtend rahmen, werden die Kinder schon nach 15 Minuten sehr viel gelassener und ruhiger). Des Weiteren gilt Freiwilligkeit, Selbstbestimmung und Mitgestaltung. Viele unserer Übungen basieren auf Ideen der Kinder selbst, die wir aufgegriffen und denen wir eine schützende und sichere Form gegeben haben. Das gilt z.B. für Vertrauensspiele („Wackel-Turm“), Angstspiele (Verstecken im Dunkeln) oder Alltagsspiele (Höhlen bauen, Schule spielen). Wenn die Kinder in ihrem oft emotionsgeladenen Ausdruckswillen nicht gehindert werden, finden sie in ihren Spielen selbst Wege, um die Erfahrungen von Angst, Gewalt und Unsicherheit „durchzuspielen“ und zu transformieren. Schnell nimmt dabei die von Erwachsenen beklagte und von ihnen erlittene Destruktivität und Aggressivität ab. Statt zu stören und zu provozieren, entwickeln sie gemeinsam und spielerisch ihren eigenen sicheren Ort. Suad, zum Beispiel, (der Name ist vom Verfasser geändert), war zu Beginn ein Außenseiter, sehr aggressiv, mit einer äußerst geringen Frusttrationstoleranz. Ständig war er in Konflikte verwickelt oder zog sich weinend in eine Ecke zurück. Mit der Zeit konnte er mit den sich abwechselnden Therapeut*innen parallel zu der Gruppe seine eigene Höhle bauen und die anderen Kinder mit dem Wissen, dass er seinen eigenen sicheren Ort hat, besuchen. Aus den Besuchen wurde gemeinsames spielen. Heute ist Suad einer der Anführer der Gruppe. Er zeigt einen hohen Gerechtigkeitssinn und übernimmt eine integrative Funktion für neu dazukommende Kinder. Er weint kaum noch, hält sich an die Regeln und erklärt sie geduldig den anderen. Er geht zur Schule und lernt schnell. Er ist selbstbewusster und ruhiger geworden und kann sich zunehmend besser selbstregulieren. Überhaupt wird in den beiden wöchentlichen Gruppen kaum noch geweint, geschlagen oder getrietzt. Und die teilnehmenden Kinder tragen ihre Erfahrungen aus dem sicheren Raum in die Unterkunft. Zunehmend bemerken wir bei Kindern, die das erste Mal dazukommen, dass sie schon einige Übungen und Regeln kennen.
Auch wir konnten uns einen sichereren Rahmen für unsere Arbeit schaffen. Wir haben einen festen Raum, einen Schrank für unsere Materialien und dank der Unterstützung von GPTG und DGfT einen Grundstock an Arbeitsmaterialien. Es war an der Zeit, unsere Erfahrungen in einem eigenen Konzept für die Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingskindern auch anderen nutzbar zu machen. Durch die Finanzierung der Robert Bosch Stiftung konnte das Projekt gesichert werden. Auf einem Fachtag für Theatertherapie in der Geflüchtetenhilfe im Juni 2017 stellten wir Ergebnisse und Methoden vor.Das Interesse von anderen Künstlerischen Therapeuten ist groß und auch das wissenschaftliche Interesse zeigt sich in vermehrten Anfragen. Die monatelange ehrenamtliche Arbeit, insgesamt über 400 Stunden, hat sich gelohnt. Erkenntnisse aus diesem Projekt finden auch Eingang in Multiplikatorenschulungen, die durch das Bezirksamt Berlin-Lichtenberg finanziert, für traumasensiblen Umgang mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen in Kindergärten, Schulen und Jugendfreizeiteinrichtungen ab September 2017 für Pädagog*innen und Sozialarbeiter*innen angeboten werden.
(Dieser Artikel erschien zuerst in der Fachzeitschrift „Trauma & Gewalt“ 2017)
[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/migranten-flucht-vor-dem-krieg-suche-nach-demokratie-1.3250826 vom 15.11.2016, 15:37 Uhr
[2] http://www.rbb-online.de/politik/thema/fluechtlinge/berlin/2016/11/Berlin-Fluechtlinge-Unterbringung-Bezirke-Notunterknfte.html vom 21.11.2016, 20.21